Leuchtende Tage

Erstellt am 16.11.19. Kategorie: Buchrezensionen
„Leuchtende Tage“
von Astrid Ruppert
Bewertung
★★★★★
Verlag dtv
Buchform Taschenbuch, eBook
Erschienen Oktober 2019
Seiten 473
Erhältlich beiAP Buch Baldham, Buchladen Vaterstetten

Von der Autorin Astrid Ruppert habe ich bereits zwei Bücher gelesen, die zwar extrem unterschiedlich waren, jedoch eines gemeinsam hatten: Sie haben mich sehr bewegt und auch nach der Lektüre noch lange beschäftigt. Das waren „Obendrüber da schneit es“ und „Tee mit Ayman.“ Nun hat die Autorin mit „Leuchtende Tage“ den Auftakt zu einer Trilogie vorgelegt, in der es um Mütter und Töchter geht, um Selbstverwirklichung auch gegen Widerstände, um die Suche nach dem eigenen Ich und um all die ungesagten Dinge, die Müttern und Töchtern oft das Leben schwermachen.

Die Geschichte beginnt mit Lisette, die 1888 in Wiesbaden zur Welt kommt. Ihr Vater ist ein erfolgreicher Bauunternehmer, die Familie gehört in der vornehmen, jedoch sehr konservativen Kurstadt zur besseren Gesellschaft, worauf vor allem die Mutter sehr viel Wert legt. Leider passt Lisette im Gegensatz zu ihren älteren Brüdern so gar nicht in das Schema, in das ihre Mutter sie pressen will. Lisette fühlt sich unverstanden, als Person nicht ernst genommen. Das äußert sich auch in der Mode: Frauen wurden damals, sobald sich erste weibliche Formen zeigten, in ein starres Korsett gepresst, das es ihnen nicht mehr ermöglichte, sich frei zu bewegen. Dagegen wehrt sich Lisette mit aller Vehemenz, sie beginnt, eigene Entwürfe zu zeichnen und träumt von einer Reformmode, von Kleidern, in denen ihre Trägerinnen sich wohl fühlen und dennoch schön aussehen – ja sogar noch schöner als in den althergebrachten Kleidern, weil sie damit eine ganz andere Ausstrahlung haben, quasi die schönste Version ihrer selbst sind.

Diese Träume bekommen neue Nahrung, als Lisette den jungen Schneider Emile kennenlernt. Die beiden verlieben sich, doch natürlich ist Emile nicht standesgemäß. Als Lisette mit einem Baron vermählt werden soll (ihre Mutter träumt schon vom Aufstieg in den Adel), verlässt Lisette 18-jährig bei Nacht und Nebel ihr Elternhaus und flieht mit Emile ins Rheingau. In dem kleinen Weindorf werden die beiden zunächst argwöhnisch beäugt (Unverheiratet! Unkonventionell!), doch schließlich schaffen sie es, von der Dorfgemeinschaft akzeptiert, ja sogar gemocht zu werden. Mehr als das: Ihr kleines eigenes Modeatelier wird immer erfolgreicher, sie haben Kundschaft aus den höchsten Rängen und sogar in Paris wird man auf sie aufmerksam. Sohn Henri, der 1912 zur Welt kommt, macht ihr Glück perfekt und es sind wahrhaft leuchtende Tage, die die kleine Familie verlebt, erst recht, als sich weiterer Nachwuchs ankündigt. Doch dann bricht der Erste Weltkrieg aus und danach ist nichts mehr so, wie es einmal war.

Parallel dazu wird die Geschichte von Maya, Lisettes Urenkelin, erzählt, die sich 2006 auf Spurensuche begibt, um die Geschichte ihrer Familie zu erforschen. Ohne Vater aufgewachsen, mit mehr Bezug zur Großmutter (Lisettes Tochter) als zur Mutter, ist sie das komplette Gegenteil von Lisette: Wo die Urgroßmutter unangepasst war, versucht Maya, nicht aus der Masse herauszustechen. Wo Lisette mutig neue Wege beschritt, ist Maya zögerlich und voller Ängste. Zu Beginn des Buches haben mich die Kapitel mit Maya zugegebenermaßen etwas genervt, sie waren für mich eine lästige Unterbrechung in der sehr viel spannenderen Geschichte Lisettes. Doch mit der Zeit wurde mir klar, dass Maya das Bindeglied der Trilogie ist und natürlich auch das Produkt ihrer Vorfahrinnen und deren Schicksal. Am Ende wollte ich dann doch wissen, wie es mit ihr persönlich weitergeht.

Mit Lisette hingegen konnte ich von Anfang an richtig mitfiebern, ich habe mit ihr gebangt, geweint, getrauert, mich mit ihr gefreut, mich um sie gesorgt. Und ich bin sehr neugierig darauf geworden, wie es mit ihr und ihren Kindern wohl weitergehen wird. Lisettes Geschichte in diesem Buch endet 1935, doch die letzten Kapitel geben bereits einen kleinen Ausblick auf den Nachfolgeband: Die Kinder sind inzwischen erwachsen und gehen eigene Wege, künftige Konflikte deuten sich an.

Es geht in diesem Buch sehr viel um Konflikte zwischen Müttern und Töchtern quer über ein ganzes ereignisreiches Jahrhundert. Daneben erfährt man aber auch sehr viel über die deutsche bzw. die Wiesbadener Geschichte zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Astrid Ruppert ist es gelungen, hier ein sehr plastisches Sittengemälde zu zeichnen. Genauso interessant fand ich die Ausführungen zum Wandel der Damenmode in dieser Zeit, die ja gewissermaßen auch ein Sinnbild des sich wandelnden Frauenbildes darstellt und eine Geschichte von Aufbruch, Freiheit und Selbstbestimmung erzählt.

Fazit: Ein sehr spannender Roman, der mich wirklich in Atem gehalten hat. Streckenweise habe ich Rotz und Wasser geheult, aber dennoch habe ich die Geschichte geliebt.