Was uns am Ende bleibt

Erstellt am 11.2.20. Kategorie: Buchrezensionen
„Was uns am Ende bleibt“
von Viola Alvarez
Bewertung
★★★★★
Verlag dotbooks
Buchform eBook
Erschienen Dezember 2019
Seiten 471
Erhältlich beiAP Buch Baldham, Buchladen Vaterstetten

Diese Lektüre musste ich erstmal sacken lassen. Der Autorin ist hier ein bewegendes Familien-Epos gelungen, das beinahe 80 Jahre umfasst, vom Zweiten Weltkrieg bis heute. Sie erzählt darin von Glamour und Elend, von Flucht vor dem Krieg und vor sich selbst, von Lügen und Geheimnissen, die beinahe drei Generationen einer Familie zerstören.

Die Familiengeschichte beginnt mit Luise Röber, einer streng und behütet aufgewachsenen jungen Frau aus Köln, die 1944 dem desertierten Soldaten Helmut Rasch zur Flucht verhilft. Die beiden landen in der Eifel, auf dem Bauernhof der Familie Wetjes, wo Luise schon 1939 als Erntehelferin war. Die Bäuerin versteckt die jungen Leute in einer Kammer, zusammen mit dem halbjüdischen Ehepaar Elsbeth und Joachim Heilberg. Es vergehen noch etliche Monate, in denen die vier auf engstem Raum zusammen leben müssen, bis der Krieg endlich vorbei ist. Am Ende ist Luise schwanger, im September 1945 wird Gabriele geboren.

Im Jahr 2015 bekommt Gabriele eine Anfrage vom Bundesfinanzministerium. Dort möchte man eine Briefmarke mit dem Konterfei ihrer inzwischen längst verstorbenen Mutter drucken. Denn aus Luise wurde nach dem Krieg Lulu von Radziwil, ein gefeierter Filmstar und das „süße Mädel“ der 1950er Jahre in zahlreichen Heimatfilmen, in denen Helmut Rasch Regie führte. Allerdings hat Lulu damals jahrelang ihre Tochter verheimlicht, Gabriele wuchs bei Elsbeth und Joachim auf, was bis heute tiefe Spuren hinterlassen hat – nicht nur bei Gabriele selbst, sondern auch bei deren Kindern, den Zwillingen Charlotte und Georg. Die Geschwister, inzwischen 41, haben ihr Leben lang darunter gelitten, dass Gabriele ihnen keine fürsorgliche Mutter war und ihren Vater kennen sie erst gar nicht.

Nun sorgt die Anfrage des Finanzministeriums für mächtig Wirbel. Denn dort will man ein ganz bestimmtes Bild von Lulu drucken, doch weder Gabriele noch ihre Kinder haben das Originalfoto mit Urhebervermerk. Nach einer Rückfrage bei einem Produzenten, mit dem Lulu früher gearbeitet hat, meldet sich schließlich ein Mann aus Australien: Er sei im Besitz des Fotos, möchte es aber nicht einfach so auf den Weg schicken, ohne vorher miteinander gesprochen zu haben. Leider sei er aber gesundheitlich nicht mehr in der Lage zu reisen.

Spontan machen sich Georg und Charlotte auf den Weg nach Australien, nichtsahnend, dass diese Reise ihr ganzes Leben verändern wird. Sie suchen Antworten auf ihre Fragen, doch sie bekommen nicht nur Antworten, sondern auch noch mehr Fragen. Und sie erhalten Einblicke in die Vergangenheit, die sie zum Umdenken zwingen.

In wechselnden Perspektiven wird die Geschichte der drei Generationen erzählt: Mal kommt Georg zu Wort, mal Charlotte, mal Luise/Lulu, zwischendurch auch mal ein paar Randfiguren. Ausgehend von der Gegenwart, wird die Vergangenheit mal in Rückblenden erzählt, als Erinnerung der Protagonisten, dann wiederum in erzählender Form in der dritten Person. So erhält man als Leser Einblick in das Leben Lulus, ihre abenteuerliche Flucht und ihren späteren Aufstieg als Filmstar, der seine Familie opfert. Man erfährt Schreckliches aus Helmuts Vergangenheit und über das Schicksal junger deutscher Soldaten, die in einem sinnlosen Krieg zu Gräueltaten gezwungen wurden, die sie ein Leben lang verfolgen werden. Ein weiterer wesentlicher Teil der Geschichte spielt in den 1970er Jahren in München, ein anderer im Australien der Gegenwart.

So setzt sich nach und nach das Puzzle der Familie Röber zusammen, eine Geschichte, die geprägt ist von Lügen und Geheimnissen. So wie es im Roman eine Figur zur anderen sagt: „In dieser Familie ist, seit Lulu und Rasch sich damals getroffen haben, keiner zum anderen je ehrlich gewesen. Lulu hat Gabriele versteckt, Rasch hat seine Vergangenheit versteckt, Gabriele versteckt sich vor Ihnen, und Sie verstecken Gabriele…“ (Zitat).

Diese Spurensuche ist von Anfang an sehr spannend zu lesen, allerdings fehlte mir zunächst eine Identifikationsfigur, jemand, mit dem ich wirklich mitfiebern konnte. Nach und nach hat sich dann Georg als derjenige herauskristallisiert, mit dem ich am meisten mitgefühlt habe. Andere Figuren hingegen empfand ich als etwas sperrig – aber sie waren eben auch alle etwas „verkorkst“ aufgrund ihrer Familiengeschichte.

Einen kleinen Punktabzug gibt es aufgrund des Covers. Die Kirche im Hintergrund stellt wohl den Berliner Dom dar. Zwar lebt Lulu nach dem Krieg in Berlin, aber dennoch hat dieses Bild mit der Geschichte eigentlich gar nichts zu tun. Und generell bin ich dieser Cover mit „Frau von hinten“ im Vordergrund und schönem Gebäude im Hintergrund mittlerweile überdrüssig. Zumal sich gerade bei Lulus Vergangenheit als Filmstar der 50er, mit Filmen wie „Heidegitarren“, doch ganz andere Bilder angeboten hätten, aber nun ja.

Alles in allem eine sehr bewegende Lektüre, die bei mir, wie eingangs erwähnt, noch lange nachgewirkt hat. Vor allem angesichts der jüngsten Ereignisse in Thüringen wurde mir beim Lesen wieder einmal deutlich bewusst, dass sich die Zeiten des Nationalsozialismus, dieses Gedankengut, die Gräueltaten des Krieges nie, nie wieder wiederholen dürfen. Klare Leseempfehlung!