Kann Spuren von Fernweh enthalten

Erstellt am 2.6.20. Kategorie: Buchrezensionen
„Kann Spuren von Fernweh enthalten“
von Birgit Hasselbusch
Bewertung
★★★★☆
Verlag dtv
Buchform Taschenbuch, eBook
Erschienen Mai 2020
Seiten 288
Erhältlich beiAP Buch Baldham, Buchladen Vaterstetten

„Der Titel passt ja perfekt in die Zeit“, dachte ich mir, schließlich wird aktuell ständig darüber diskutiert, wo in Zeiten von Corona noch Urlaub möglich ist. Doch mit Fernweh hat der Roman meiner Meinung nach gar nicht so viel zu tun, sondern vielmehr mit Loslassen, Neuanfang, Eltern-Kind- und Paar-Beziehungen und mit der Frage, welche oft weitreichenden Konsequenzen unsere Handlungen haben.

Alexandra, genannt Alex, und ihr Mann Markus müssen kräftig schlucken, als ihre Tochter Lou ihnen eröffnet, dass sie nach dem Abi als Au-pair nach Madrid ziehen will. Beiden fällt es schwer, das einzige Kind ziehen zu lassen. Für Alex wiegt aber etwas anderes noch viel schwerer: Lou möchte ausgerechnet bei der Familie arbeiten, in der Alex selbst vor 30 Jahren als Au-pair tätig war. Der Junge, auf den sie damals aufgepasst hat, hat inzwischen selbst Familie. Doch Alex hat keine guten Erinnerungen an ihre Zeit in Madrid. Man ahnt beim Lesen schon, dass sich damals Schlimmes zugetragen haben muss, doch was genau, bleibt lange ein Geheimnis, von dem auch Markus und Lou nichts wissen.

Also zieht Lou nach Spanien und Alex und Markus bleiben allein zurück. Dabei wird deutlich, dass das Paar sich voneinander entfernt hat: Aus der großen Liebe von einst ist längst Routine geworden, die beiden leben nur noch nebeneinander her anstatt wirklich miteinander. Dazu kommt, dass Alex eine Affäre mit Christoph hat. Der ist Witwer und nach dem Tod seiner Frau hätte er nie geglaubt, sich noch einmal zu verlieben. Deshalb macht er Alex bald klar, dass er mehr von ihr will als nur ein paar heimliche Treffen. Alex muss sich zwischen ihm und Markus entscheiden. Und auch Markus ist nicht unempfänglich für die Reize einer jungen Frau – doch ausgerechnet dann kommt es zum Unglück, Alex und Markus lassen alles stehen und liegen und eilen nach Madrid. Dabei kommen auch einige unliebsame Wahrheiten aus der Vergangenheit ans Licht.

Die Geschichte wird abwechselnd aus der Perspektive von Alex, Markus, Lou und Christoph erzählt und spielt mal im Jahr 1989, als Alex selbst in Madrid weilt, mal um die Jahrtausendwende, als das Kennenlernen von Alex und Markus erzählt wird, und letztlich im Jahr 2019, als Lou in Madrid ist und ihre Eltern daheim um ihre Beziehung ringen. Das fand ich anfangs etwas verwirrend, mir waren das zu viele Wechsel und zu viele Cliffhanger am Ende jeden Kapitels und es dauerte etwas, bis ich mich auf den Rhythmus der Geschichte einlassen konnte. Diese plätschert anfangs aber eh mehr so dahin, erst in der zweiten Hälfte wird es dann richtig dramatisch. Das Ende schließlich war für mich persönlich irgendwie unbefriedigend, aber das ist sicher Geschmackssache.

Doch die Geschichte bietet viel Stoff zum Nachdenken: Die junge Alex kämpft sehr gegen die Überbehütung durch ihre Eltern – etwas, was ich aus eigener Erfahrung absolut nachvollziehen kann. Alex’ Vater greift dabei auch zu Mitteln, die nicht immer ganz okay sind und provoziert damit Reaktionen, die er sich wohl niemals hätte vorstellen können und ganz sicher auch nie gewollt hätte, so tragisch, wie sie sind. Denn ohne seine Lüge wäre Alex in Madrid wohl nicht das passiert, was ihr noch 30 Jahre später so zu schaffen macht und letztlich Auswirkungen auf ihr ganzes Leben hat. Andererseits hat Alex’ Vater gute Gründe, warum ihm das Loslassen so schwer fällt, da kann ich ihn wiederum gut verstehen.

Spannend war für mich auch der Vergleich, wie unterschiedlich Alex und ihre Tochter Lou mit dem Leben als Au-pair umgehen, da merkt man schon, dass die nachfolgende Generation ein ganz anderes Selbstbewusstsein hat. Das ist für mich sehr glaubwürdig und plausibel dargestellt.

Der Epilog schließlich spielt im März 2020, allerdings hatte die Autorin beim Schreiben natürlich noch keine Ahnung, dass dieser Monat bereits von der Corona-Pandemie geprägt sein würde. Für mich war es ein interessanter Gedankengang, wie sich die Schicksale der Romanfiguren unter diesen Bedingungen wohl weiter entwickeln würden und ob das womöglich Einfluss auf so manche ihrer Entscheidungen gehabt hätte… aber das bleibt wohl der Fantasie jedes Lesers selbst überlassen.

Alles in allem ein Roman mit sehr vielen nachdenklichen Aspekten, nicht wirklich ein Pageturner, aber eine sehr schöne Geschichte mit vielen Zwischentönen, die man sowohl im Sommer als auch im Winter gut lesen kann.