Reserve

Erstellt am 20.1.23. Kategorie: Buchrezensionen
„Reserve“
von Prinz Harry
Bewertung
★★★★★
Verlag Penguin
Buchform gebunden, eBook
Erschienen Januar 2023
Seiten 512
Erhältlich beigenialokal.de (Affiliate-Link, siehe Infos hier)

Ich bin sozusagen mit der königlichen Familie aufgewachsen. Meine Mutter liest seit Jahrzehnten regelmäßig „die aktuelle“ und so habe ich schon als Kind die Geschichten über das britische Königshaus mitverfolgt. Natürlich hat mich der Tod von Prinzessin Diana und der Anblick ihrer Söhne hinter ihrem Sarg zutiefst berührt. Und auch wenn ich mittlerweile als Erwachsene und vor allem als Journalistin, die sich der Seriosität und Wahrheit verpflichtet fühlt, Klatschzeitschriften wie die oben genannte sehr kritisch sehe, so ist mir doch ein gewisses Interesse an Harry, William und all den anderen Royals geblieben. Und gerade weil über Harry und seine Biografie schon vorab so viel berichtet wurde (auf zumeist sehr reißerische Art), wollte ich mir unbedingt selbst ein eigenes Urteil bilden.

Das Buch ist in drei große Teile untergliedert. Vorangestellt ist ein Prolog, in dem Harry schildert, wie er kurz nach der Beerdigung von Prinz Philip mit seinem Bruder William und seinem Vater Charles zu einem Gespräch verabredet ist. Er versucht, ihnen die Gründe für seinen Umzug nach Amerika klarzumachen, doch die beiden verstehen ihn nicht oder wollen ihn nicht verstehen. Ja, sie wollen ihm nicht einmal richtig zuhören.

Der Versuch eines Kindes, den Tod der Mutter zu verarbeiten

Der erste Teil beginnt mit dem 30. August 1997, dem Todestag von Prinzessin Diana. Harry schildert, wie sein Vater ihm die Nachricht überbringt. Schon da habe ich innerlich den Kopf geschüttelt, denn offenbar gab es da keine tröstende Umarmung für den Zwölfjährigen. Und es war auch nicht so, dass Charles seinen beiden Söhnen die traurige Nachricht gemeinsam mitgeteilt hätte, sondern nacheinander. Jeder der beiden Söhne blieb danach allein zurück, es gab kein gemeinsames Trauern, keinen gegenseitigen Halt.

Beim Lesen wurde mir auch sehr schnell klar, dass das Verhältnis der beiden Brüder William und Harry in Wahrheit wohl gar nicht so innig war, wie es seitens der Presse immer dargestellt wurde. Das äußerst sich z.B. daran, wie William reagiert hat, als auch sein jüngerer Bruder ins Internat in Eton kam:
„Willy hatte mir eingeschärft, ich solle so tun, als würden wir uns nicht kennen.
Was?
Du kennst mich nicht, Harold. Und ich kenne dich nicht. (…)
Willy hatte es noch nie leiden können, wenn man uns als Doppelpack wahrnahm. (…)
Ich sagte ihm, er solle sich keine Sorgen machen. Ich vergesse einfach, dass ich dich je gekannt habe.“ (Zitat)

Beide Jungs trauern um ihre Mutter, aber auf sehr unterschiedliche Weise. Harry flüchtet sich jahrelang in die Vorstellung, seine Mutter sei gar nicht tot, sondern habe ihren Tod nur vorgetäuscht, um unerkannt verschwinden zu können. Schließlich wurde sie ja ständig von Fotografen belagert und verfolgt, das hatte Harry schon als Kleinkind hautnah auf dramatische Weise miterlebt.

Jahre später besucht er den Unfallort, fährt selbst durch den Tunnel und kommt zu dem Schluss, dass es unmöglich ist, in dem schnurgeraden Tunnel einen Unfall zu bauen – es sei denn, man wird von Paparazzi gejagt und von ihren Blitzlichtern geblendet. Er sieht Fotos in der Polizeiakte, die belegen, dass die Paparazzi seine sterbende Mutter aus nächster Nähe abgelichtet haben.

Kein Wunder also, dass Harry von jeher der Presse ablehnend gegenüber steht, ja regelrecht traumatisiert ist, denn obwohl das Königshaus nach Dianas Unfalltod mit der britischen Presse eine Abmachung getroffen hatte, Dianas Söhne in Ruhe zu lassen, erschienen immer wieder Lügengeschichten in den Zeitungen:

„Ich las den Artikel mehrere Male. Was mich bei aller Düsterkeit seiner Botschaft – irgendetwas stimmt nicht mit Prinz Harry – besonders irritierte, war der vergnügliche Ton. Meine Existenz war ein Witz für diese Leute. Sie sahen mich nicht als Menschen. Sie sahen nicht den völlig am Boden zerstörten Vierzehnjährigen. Ich war eine Comicfigur, eine Handpuppe, die man benutzen und veräppeln konnte. Dass ihre Witze mir mein ohnehin schweres Leben noch schwerer machten; dass ich zum Gespött meiner Mitschüler und darüber hinaus der ganzen Welt wurde; dass sie ein Kind quälten – all das war gerechtfertigt, weil ich ein Royal und damit nach ihrer Logik eigentlich kein richtiger Mensch war.“ (Zitat)

Harry wurde in der Öffentlichkeit als der Böse, der Dumme abgestempelt und konnte sich nicht dagegen wehren. Denn im britischen Königshaus gilt von jeher die Devise: „Never explain, never complain“ (niemals erklären, niemals beschweren). Hier hat Harry wirklich mein vollstes Mitgefühl, denn auch ich kann es gar nicht leiden, wenn ich gegen Ungerechtigkeiten nicht vorgehen kann. Wie hilflos muss er sich da gefühlt haben?

Kriegseinsatz in Afghanistan und Medienkrieg zuhause

Im zweiten Teil des Buches geht es vor allem um Harry Militärzeit. Offen räumt er ein, dass er nicht der beste Schüler gewesen sei (seine Noten waren übrigens im ganzen Commonwealth öffentlich einsehbar). „Alle gingen davon aus, dass Mitglieder der Königsfamilie ohnehin keine beruflichen Ziele oder Sorgen hatten. Du bist von königlicher Geburt, alles wird dir abgenommen, warum solltest du dir Sorgen machen? Aber in Wirklichkeit machte ich mir viele Gedanken darüber, meinen Weg zu finden, meine Bestimmung in dieser Welt. Ich wollte keiner dieser Cocktails schlürfenden Faulpelze sein (…)“ (Zitat).

So geht er schließlich zum Militär und findet dort seine berufliche Bestimmung – auch deswegen, weil ihm die Armee ermöglicht, weit weg ins Ausland zu gehen – wobei sein Irak-Einsatz dadurch vereitelt wird, dass die Presse vorher ausführlich darüber berichtet hat und der Einsatz somit für Harry und seine Kameraden zu gefährlich würde, was ihn ungeheuer frustriert. Stattdessen wird er später zweimal nach Afghanistan geschickt.

Ich muss gestehen, dass mir die Schilderungen seiner Militärausbildung, der Waffen und Flugzeuge viel zu lang waren, weil ich als Pazifistin damit so gar nichts anfangen kann. Zudem kamen mir bei der Lektüre Bedenken, ob es so klug ist, das alles so haargenau zu erzählen. Es kam ja als Reaktion auf dieses Buch auch schon Kritik vom Militär, dass Harry durch diese Schilderungen sich selbst, seine Familie und auch die anderen Soldaten unnötig in Gefahr gebracht haben könnte.

Für Harry selbst ist der Einsatz im Kriegsgebiet nichts gegen die Kämpfe daheim. Mehrere seiner Beziehungen sind daran zerbrochen, dass die jeweiligen Frauen von der Presse verfolgt und drangsaliert wurden, am Auto seiner ehemaligen Freundin Chelsy war zum Beispiel ein Peilsender angebracht worden, so dass die Presse immer ganz genau wusste, wohin sie fuhr. Für Harry ist klar, dass er ganz einfach in die falsche Familie hinein geboren wurde: „Hätte ich die Wahl, würde ich mir dieses Leben auch nicht aussuchen.“ und „Ich wollte mich vor der Menschheit verstecken, von dem Planeten fliehen.“ (Zitat).

Die liebe Familie…

Seine Familie ist ihm keine Hilfe. Von der Heirat seines Bruders William erfährt Harry nicht von ihm selbst, sondern durch eine Pressemitteilung des Palasts, obwohl die beiden Brüder kurz zuvor noch gemeinsam auf Reisen gewesen waren. Schlimmer noch: „Der Öffentlichkeit war ich als Trauzeuge präsentiert worden, aber das war eine schamlose Lüge. Die Öffentlichkeit erwartete, dass ich Trauzeuge wurde, weshalb dem Palast nichts anderes übrigblieb, als es zu bestätigen. Willy wollte aber nicht, dass ich die Trauzeugenrede hielt.“ (Zitat)

Im dritten Teil des Buches schließlich dreht sich alles um die Beziehung zu Meghan Markle. Harry schildert, wie sie sich kennenlernen und sofort zueinander hingezogen fühlen. Doch auch Meghan wird von der Presse verfolgt – das geht so weit, dass Paparazzi ihren Nachbarn Geld dafür bieten, dass sie Kameras auf deren Dächern installieren dürfen, von denen aus sie in Meghans Haus filmen können. Eine Zeitlang lebt sie dort nur noch mit heruntergelassenen Jalousien. Dazu kommen rassistische Angriffe auf sie und auf ihre Mutter und immer wieder dreiste bösartige Lügen, bis hin zu Morddrohungen. Und der Palast tut nichts dagegen, obwohl Harry dort immer wieder um Hilfe fleht…

Wechselbad der Gefühle

Die Lektüre dieses Buches hat mir ein Wechselbad der Gefühle beschert. Da war zum einen Mitgefühl mit dem jungen Harry, der nicht über den Verlust seiner Mutter hinweg kommt und in einer Familie aufwächst, in der man keine Gefühle zeigen kann oder darf. Unverständnis, soweit es um das Thema Militär ging, Hochachtung, wenn er von seinem Einsatz für wohltätige Zwecke erzählt, Entsetzen über das Gebahren der Medien und als Folge davon Scham, weil ich selbst ab und an ganz gerne in Klatschzeitungen geblättert habe – die Lust darauf ist mir allerdings durch dieses Buch vergangen.

Harry musste ja viel Kritik dafür einstecken, dass er mit diesem Buch überhaupt an die Öffentlichkeit gegangen ist und darin Familieninterna ausplaudert. Ich kann ihn verstehen. Er hatte wohl das Bedürfnis, endlich mal seine Sicht der Dinge darzulegen und sich gegen all die Lügen zu wehren, die über ihn verbreitet wurden. Aus meiner eigenen beruflichen Erfahrung heraus weiß ich: Hätte er lediglich eine Pressemitteilung herausgegeben, hätte er keinen Einfluss darauf gehabt, ob diese abgedruckt wird und wenn ja, ob sie nicht vielleicht gekürzt und dadurch womöglich im Sinn entstellt wird. Bei seiner Biografie hingegen hatte er die volle Kontrolle über das, was veröffentlicht wird.

Vor der Lektüre hatte ich mir auch noch gedacht: Wenn Harry seine Ruhe haben will, warum gibt er dann immer wieder Interviews, erzählt in Podcasts und dieser ominösen Netflix-Doku (ich habe nichts davon je selbst gesehen oder gehört) immer wieder neue Geschichten über seine Familie? Durch das Buch ist mir klar geworden, dass dieser Mann wohl niemals ein Leben fernab des Rampenlichts führen kann. Er ist nunmal in die bekannteste Familie dieses Erdballs geboren worden und damit muss er irgendwie zurecht kommen. Ich selbst wäre an so einem Leben wohl schon längst zerbrochen.

Mein Fazit

Insgesamt ist das Buch so geschrieben, dass man es leicht lesen kann, die Übersetzer haben für meine Begriffe gute Arbeit geleistet. Schon der Einstieg ist so spannend, dass man sofort in die Geschichte hinein gezogen wird und auch im weiteren Verlauf habe ich das Buch oft erst dann weggelegt, wenn meine Augen vom vielen Lesen geschmerzt haben. Die Lektüre hat mich sehr beschäftigt, oft habe ich meiner Familie abends davon erzählt und wir haben gemeinsam darüber diskutiert. Auf jeden Fall bietet die Geschichte Einblicke, die ich vorher nicht hatte, öffnet ganz andere Perspektiven und wirkt auch nach dem Lesen noch nach.

Trotz oder gerade wegen des überwiegend negativen Medienechos auf dieses Buch: Ich bin sehr froh, dass ich mir selbst ein Bild davon gemacht habe – und würde das Buch genau deshalb auch weiterempfehlen.

[Werbung, unbezahlt] [Als Werbung gekennzeichnet, da Rezensionsexemplar erhalten]