Brunnenstraße

Erstellt am 18.3.22. Kategorie: Buchrezensionen
„Brunnenstraße“
von Andrea Sawatzki
Bewertung
★★★★☆
Verlag Piper
Buchform gebunden, eBook
Erschienen Februar 2022
Seiten 167
Erhältlich beiAP Buch Baldham, Buchladen Vaterstetten

Auf dieses Buch hatte ich mit Spannung gewartet, doch als ich es in Händen hielt, wollte ich es erst gar nicht lesen. Warum, das erzähle ich Euch hier.

Kürzlich habe ich durch Zufall erfahren, dass die bekannte Schauspielerin Andrea Sawatzki einen Teil ihrer Kindheit und Jugend in meinem Heimatort Baldham verbracht hat. Wir waren sogar auf derselben Schule: Als ich 1980 in die 5. Klasse des Gymnasiums Vaterstetten (heute Humboldt-Gymnasium) kam, besuchte sie bereits die 11. Jahrgangstufe, wie meine Jahresberichte aus dieser Zeit belegen. Als ich dann noch erfuhr, dass sie einen autobiografischen Roman namens „Brunnenstraße“ geschrieben hat und es sich dabei tatsächlich um die Brunnenstraße hier bei uns in Baldham handelt, war klar: Das muss ich lesen!

Das Buch ist allerdings keine locker-leichte Lektüre: Sie berichtet darin von ihrem Vater, der an Demenz erkrankte, als sie selbst noch ein Kind war. Andreas Mutter Emmi, eine Krankenschwester, lernte den weltgewandten Journalisten Günter Sawatzki 1961 kennen. Er war Patient auf ihrer Station und die beiden verliebten sich. Allerdings war Günter nicht nur 25 Jahre älter als Emmi, sondern auch verheiratet und Vater eines Sohnes. Die Ehe war nicht glücklich, doch eine Scheidung kam nicht in Frage, nicht zuletzt, weil Günters Frau unter schweren Depressionen litt.

Als Emmi schwanger wurde, nahm Günter eine Stelle in London an und holte Emmi zu sich. Er wollte für sie und das gemeinsame Kind sorgen, doch dann erlitt er einen schweren Unfall und verlor seinen Job. Um Emmi versorgt zu wissen, schickte er sie zu einem Freund nach Bayern, wo die kleine Andrea 1963 zur Welt kam. Wenig später nahm Emmi eine Stelle im schwäbischen Vaihingen an. Verschiedene Freundinnen und Bekannte sorgten für Andrea, während ihre Mutter arbeiten musste, doch die Zeit, die Mutter und Tochter gemeinsam verbrachten, war harmonisch.

Im Buch heißt es: „Ich teile meine Kindheit in zwei Leben auf“ (Zitat). Das erste Leben dauerte bis zu Andreas achtem Lebensjahr, das zweite Leben begann 1971 in Baldham. In diesem Jahr nahm sich Günters erste Frau das Leben und Günter war frei, um Emmi zu heiraten. Andrea hatte bisher keinen Vater vermisst, freute sich aber, nun auch einen zu bekommen, so wie all ihre Freundinnen. Außerdem freute sie sich darauf, künftig mehr von ihrer Mutter zu haben, schließlich würde diese künftig von ihrem Mann versorgt werden und bräuchte nicht mehr zu arbeiten.

Doch schon die Hochzeit war eine Enttäuschung für Andrea, sie war nämlich gar nicht dabei. Und als sie mit ihrer Mutter in Baldham am neuen Zuhause eintraf, war niemand da, um sie in Empfang zu nehmen. Als Günter schließlich kam, sagte er: „Ich dachte, ihr kämt erst morgen!“ (Zitat).

Auch für die Mutter gab es bald ein böses Erwachen, als sie entdeckte, dass Günter enorme Schulden angehäuft hatte und kaum noch Aufträge bekam. Emmi war gezwungen, als Nachtschwester im 20 Kilometer entfernten Kreiskrankenhaus zu arbeiten, um die Familie über die Runden zu bringen. Es wurde an allem gespart, an Heizung, an Essen, an Zeit für die Tochter. Die Nachbarn begegneten Emmi und Andrea misstrauisch, denn natürlich hatten sie die erste Frau Sawatzki gekannt und machten Günters Affäre mit Emmi für deren Suizid verantwortlich.

Günter, den Andrea bisher nur von wenigen kurzen Besuchen kannte, entpuppte sich als strenger Vater, er war den Umgang mit einem kleinen Kind nicht gewohnt. Andrea wiederum war ein Wildfang, bisher war sie relativ frei aufgewachsen und die ständige Kontrolle und Bevormundung nicht gewohnt. Dennoch bemühte sie sich, ihrem neuen Vater zu gefallen.

Und dann offenbarte sich allmählich die tückische Krankheit: Günter litt an Alzheimer. Er wurde aggressiv, man konnte ihn nicht mehr alleine lassen, musste ihn zuhause einsperren. Da Emmi nachts arbeitete und tagsüber schlief, blieb es an Andrea hängen, sich um ihren Vater zu kümmern. Dabei hatte sie oft Angst vor ihm, denn er schreckte nicht davor zurück, sie zu verprügeln. Je weiter die Krankheit voranschritt, desto häufiger musste das kleine Mädchen seinen Vater füttern und waschen, ihm den Hintern abwischen, Urin vom Boden wegputzen. Sie begann, ihren Vater zu hassen und sich seinen Tod zu wünschen, überlegte, seine Medikamente zu verstecken oder ihm alle auf einmal zu verabreichen, schämte sich dann aber für diese Gedanken.

Als Günter 1978 starb, war Andrea gerade einmal 15 Jahre alt und hatte sieben Jahre Martyrium hinter sich. Doch sein Tod war nur bedingt eine Erlösung für das junge Mädchen: Sie wurde von Schuldgefühlen und Alpträumen geplagt, reagierte mit Rebellion, wilden Partys und Alkoholexzessen. Ihren Frieden, so kann man dem Vorwort des Buches entnehmen, hat sie mit diesen schlimmen Erfahrungen über Jahrzehnte hinweg nicht machen können. Erst spät, als sie längst verheiratet und Mutter war, konnte sie sich selbst verzeihen.

Wie ich eingangs geschrieben habe, wollte ich das Buch zunächst gar nicht lesen. Denn just an dem Tag, als das Rezensionsexemplar bei mir ankam, ist mein Vater kurz nach seinem 92. Geburtstag gestorben. Der denkbar schlechteste Zeitpunkt also, um ein Buch über eine komplizierte Vater-Tochter-Beziehung zu lesen, oder? Weil ich aber grundsätzlich ein Rezensionsexemplar, das ich anfrage, auch lese und sowieso die Nächte nach dem Tod meines Vaters kaum schlafen konnte, habe ich die Lektüre schließlich doch angefangen – und schwankte zwischen Entsetzen, Fassungslosigkeit, Dankbarkeit und Erleichterung. Entsetzen und Fassungslosigkeit über die schlimme Situation, der dieses kleine Mädchen hilflos ausgesetzt war. Dankbarkeit und Erleichterung, dass meinem Vater die Krankheit Alzheimer erspart geblieben ist, er war bis zu seinem letzten Tag völlig klar im Kopf. Und vor allem natürlich auch Dankbarkeit, weil das Verhältnis zwischen meinem Vater und mir so viel harmonischer war als das im Buch geschilderte.

Andrea Sawatzki erzählt in kurzen, schnörkellosen Kapiteln einzelne Episoden ihrer Kindheit, anfangs noch mit mehreren Rückblenden, später weitestgehend chronologisch bis hin zum bitteren Ende. Dabei zeichnet sie ein äußerst plastisches Bild der 1970er Jahre. In vielem habe ich mich wiedererkannt, was zum Beispiel damalige Lieblingsfilme oder -bücher betraf. Vom Ort Baldham selbst schreibt sie nicht allzu viel, aber sie erwähnt ein Lebensmittelgeschäft am Ende der Brunnenstraße, das meiner Erinnerung nach am Bahnhofsplatz angesiedelt war (in den die Brunnenstraße mündet), außerdem ein Wäldchen und daneben ein Maisfeld – dort steht heute das Seniorenheim Sankt Korbinian. Wo genau sie damals gewohnt hat, erwähnt sie nicht. Die Brunnenstraße ist lang, geht heute bis zur Hausnummer 73, aber ich habe eine vage Vorstellung, wie ihr Zuhause ausgesehen haben könnte, zumal ich einige Häuser in dieser Straße auch von innen kenne. Mehrfach erwähnt sie den schönen großen Garten mit der Linde darin.

Am Ende des Buches bleiben bei mir noch viele Fragen offen, zum Beispiel: Was ist eigentlich mit dem Sohn aus erster Ehe passiert, Andreas Halbbruder? Der wird mit keinem Wort erwähnt. Absolut fassungslos bin ich über die Tatsache, dass die Nachbarn wohl mitbekommen haben, was in der Familie Sawatzki los war (die Vermieterin wohnte z.B. mit im Haus), aber niemand hat versucht zu helfen. Andreas Mutter Emmi hat ihren Mann wohl bis zuletzt innig geliebt. Die extreme Belastung für ihre Tochter hat sie zwar gesehen, aber nichts dagegen unternommen. Es würde mich sehr interessieren, ob Mutter und Tochter später einmal versucht haben, darüber zu reden. Das Buch lässt vermuten, dass dies eher nicht der Fall war. Außerdem frage ich mich, warum keiner von Andreas Lehrern nachgefragt hat, warum das Kind so oft völlig übermüdet und zu spät in die Schule kam, warum die Noten der an sich guten Schülerin immer schlechter wurden. Das entsetzt mich sehr, aber ich hoffe und wünsche mir, dass so etwas heute dank Schulpsychologen und Jugendsozialarbeitern vielleicht eher entdeckt würde.

Sehr gerne hätte ich am Ende des Buches noch erfahren, wie es mit Andrea nach der Rebellion ihrer Teenagerjahre weiterging. In irgendeinem Interview hat sie ihren Lehrer Herrn Müller und dessen Wahlkurs „Dramatisch Gestalten“ erwähnt. Es handelt sich dabei um einen meiner damaligen Lieblingslehrer, Hartmut Müller, der inzwischen leider auch nicht mehr am Leben ist. Die Aufführungen seiner Theatergruppe waren legendär und wie ich meinen Jahresberichten entnehmen konnte, hat Andrea da schon häufig die Hauptrolle gespielt. In gewisser Weise wurde also wohl hier in Baldham der Grundstein für ihre spätere Schauspielkarriere gelegt. Vielleicht hat ihr das geholfen, sich wieder etwas zu fangen?

Sehr gerne hätte ich Andrea Sawatzki interviewt und ihr all diese Fragen persönlich gestellt. Das hätte auch gut zum 50-jährigen Jubiläum unseres Gymnasiums gepasst, dessen Absolventin sie ja schließlich ist. Entsprechende Anfragen an verschiedene Presse-Ansprechpartner im Piper-Verlag blieben aber leider unbeantwortet und von ihrer PR-Agentur hieß es nur, Frau Sawatzki habe keine Zeit. Schade.

So musste dann auch mein Bericht in der Ebersberger Zeitung (Landkreisausgabe des Münchner Merkur, die auch in Baldham erscheint) ohne ein Interview auskommen: