Glückskinder

Erstellt am 9.2.21. Kategorie: Buchrezensionen
„Glückskinder“
von Teresa Simon
Bewertung
★★★★★
Verlag Heyne
Buchform Taschenbuch, eBook
Erschienen Februar 2021
Seiten 512
Erhältlich beiAP Buch Baldham, Buchladen Vaterstetten

Kürzlich habe ich den Krimi „Das doppelte Gesicht“ von Heidi Rehn gelesen, der in München im Sommer 1945, also kurz nach Kriegsende, spielt. In der gleichen Zeit ist auch dieser brandneue Roman von Teresa Simon angesiedelt. Teresa Simon ist für mich schon lange ein Garant für gute Geschichten, ich habe alle ihre bisherigen Romane gelesen (und bis auf den ersten auch rezensiert, damals hatte ich meinen Blog noch nicht). So ist es also kein Wunder, dass ich voller Spannung auf dieses Buch wartete.

Es geht darin um zwei sehr unterschiedliche Frauen in den Jahren 1942 bis 1948. Die Geschichte spielt fast ausschließlich in München, der Prolog aber führt uns nach Haarlem in den Niederlanden. Dort versteckt sich eine junge Jüdin vor dem Zugriff der Nazis auf einem Dachboden. Auf abenteuerliche Weise befreit sie sich zunächst aus ihrer misslichen Lage, nimmt eine falsche Identität an, gerät dann aber doch in Gefangenschaft und landet schließlich in einer Außenstelle des Konzentrationslagers Dachau. Bei der Firma Agfa in München muss sie zusammen mit anderen Zwangsarbeiterinnen unter unwürdigsten Bedingungen leben und arbeiten. Ihr Mantra, um diese Pein zu überleben, lautet über Jahre: „Ich. Bin. Griet. Van. Mook. Ich. Werde. Leben.“

Parallel wird die Geschichte der Münchnerin Antonia Brandl, genannt Toni, erzählt. Ausgebombt finden sie, ihre Mutter und ihre kleine Schwester Unterschlupf bei Großtante Vev, wo auch schon ihre Tante und ihr Cousin Benno, ein strammer Nazi, leben. Der Vater wird vermisst, der Bruder ist in französischer Gefangenschaft. Die Familie leidet nicht nur unter den beengten Wohnverhältnissen, sondern vor allem unter großem Hunger. Immer wieder gehen sie hamstern aufs Land, jedoch mit nur mäßigem Erfolg. Dann lernt Toni den zwielichtigen Louis kennen, der es mit viel Charme und Verhandlungsgeschick schafft, auf dem Schwarzmarkt die wundersamsten Dinge zu ergattern, wovon auch Toni und ihre Familie profitieren. So glücklich sie darüber sind und so wild Tonis Herz bei Louis’ Anblick auch schlägt, so ganz traut sie ihm dennoch nicht über den Weg.

Dann ist der Krieg endlich aus, die Amerikaner marschieren in München ein. Das bedeutet für Griet zunächst die Befreiung aus dem Lager und schließlich die Einquartierung bei Tonis Familie. Dort wird sie nicht gerade mit offenen Armen empfangen, schließlich sind die Platzverhältnisse eh schon beengt, außerdem steht Griet offensichtlich unter dem Protektorat von Captain Dan Walker und keiner aus der Familie ahnt, welch schweres Schicksal Griet erdulden musste. Griet wiederum hasst (verständlicherweise) alle Deutschen und ausgerechnet in Benno erkennt sie den Aufseher aus dem Agfa-Werk wieder, der ihr und den anderen Zwangsarbeiterinnen und KZ-Häftlingen das Leben so schwer gemacht hat.

Dennoch: Die Not schweißt Griet und Tonis Familie zusammen, gemeinsam kämpfen sie in der schweren Nachkriegszeit ums Überleben und helfen einander, wann immer es nötig ist. Aus Griet und Toni werden sogar Freundinnen, doch leider kommen ihnen ihre Gefühle für Louis und Dan dabei immer wieder in die Quere, so dass ihre Freundschaft mehr als einmal auf eine harte Probe gestellt wird. Und dann ist da ja auch noch Griets große Lüge, ihre wahre Identität betreffend…

Die Geschichte beginnt äußerst beklemmend. Als Griets Schicksal geschildert wird, musste ich mehrmals das Buch weglegen und das Gelesene erstmal sacken lassen, denn das war wirklich harte Kost. Selbst wenn man über die Gräueltaten der Nazis schon vieles wusste, macht es doch nochmal einen Unterschied, das anhand eines Einzelschicksals nachzulesen. Zwar ist Griet eine fiktive Figur, doch ihre Geschichte basiert auf wahren Begebenheiten, wie die Autorin im Nachwort ausführlich erläutert.

Was ich aus dem Geschichtsunterricht noch nicht wusste, waren die Schilderungen zum Schwarzmarkt in der Münchner Möhlstraße. Der wird schon im oben genannten Krimi von Heidi Rehn kurz erwähnt, richtig detailliert geschildert wird er aber hier im Roman von Teresa Simon. Es ist unfassbar, dass dort zu einer Zeit, in der die Bevölkerung hungern musste und Grundnahrungsmittel hart umkämpft waren, wahre Luxusgüter ganz offen getauscht werden konnten. Das war mir in dieser Ausprägung vorher nicht bewusst.

Sowohl Griet als auch Toni waren mir trotz ihrer Unterschiedlichkeit auf Anhieb beide sehr sympathisch, ebenso wie auch die anderen Protagonisten, mit Ausnahme von Benno. So konnte ich mit allen Figuren von Anfang an mitfühlen und auch mitleiden. Da der Roman abwechselnd aus Griets und aus Tonis Sicht erzählt wird, bleibt es auch immer spannend und abwechslungsreich. Der Romantitel „Glückskinder“ mutet angesichts der Epoche, in der die Geschichte spielt, zunächst vielleicht etwas seltsam an. Aber letztlich gehörte für alle, die diese schreckliche Zeit überlebt haben, schon eine gehörige Portion Glück dazu.

Übrigens: Hinter dem Pseudonym Teresa Simon steckt die bekannte und von mir sehr geschätzte Bestsellerautorin Brigitte Riebe. Unter ihrem Klarnamen hat sie u.a. die sehr bewegende Trilogie über die „Schwestern vom Ku’damm“ geschrieben, in der das Schicksal dreier Schwestern im Berlin der Nachkriegsjahre erzählt wird. Berlin hatte damals ja einen Sonderstatus. Als Teresa Simon erzählt sie nun aus ihrer (und meiner) Heimatstadt München und ich fand es besonders interessant, diese Epoche somit aus zwei sehr unterschiedlichen Perspektiven quasi nachzuerleben.

In einer Zeit, wo viele Zeitzeugen der NS-Zeit und des Zweiten Weltkriegs schon verstorben sind, ist es umso wichtiger, die damaligen Verhältnisse in Romanen wie diesem erlebbar zu machen. Gerade jetzt, wo Rechtsextremismus und Antisemitismus leider wieder zunehmen, sollte dieser Roman eigentlich zur Pflichtlektüre werden. Ich kann ihn jedenfalls nur aus ganzem Herzen empfehlen.